Warum Fernwandern und Pilgern?

Ich habe meiner 8-jährigen Nichte erzählt, dass ich zu Fuß eine Reise unternehmen werde, die ungefähr so ist, als würde ich von Berlin nach Stuttgart laufen, dann wieder zurück nach Berlin und dann noch einmal nach Stuttgart. Mit großen Augen fragte sie: „Warum denn das“? Gute Frage. Hier sind einige meiner Motive:

Ich bin neugierig: Ich konnte nie genug vom Fernwandern bekommen. Ich hatte immer das Gefühl, dass die Zeit zu kurz ist. Wie gerne wäre ich noch ewig so weitergelaufen. Ich möchte gern wissen,

  • wann und wie es zur Routine wird
  • wird sich mein Körper an das Laufen anpassen und werde ich mich unglaublich fit fühlen?
  • wie geht dieser Jakobsweg weiter, auf dem ich schon einen großen Teil gelaufen bin?

Ich möchte meine Grenzen testen: Wieviel kann ich pro Tag laufen und wie weit kann ich mich steigern? Wie weit werden mich meine Füße tragen?

Ich möchte etwas hinter mir lassen – jeden Tag: Ich habe eine schwierige Zeit hinter mir und möchte dafür ein deutliches Zeichen setzen. Auf dem Jakobsweg geht es ganz klar immer nach vorn.
Im Alltag kann dieses Gefühl abhandenkommen, denn er erscheint eher wie eine Serie aus Wiederholungen: Aufstehen, Frühstücken, Arbeiten, Hobbies, Freunde, Haushalt und andere Verpflichtungen. Immer wieder. Wenn man genau hinschaut, ist jeder Tag anders. Aber es ist weniger zu merken.
Auf dem Jakobsweg (und auf anderen Fernwanderungen) lässt man täglich den Ort hinter sich, an dem man die Nacht verbracht hat. Und man lässt jeden einzelnen Kilometer hinter sich.

Ich möchte Einfachheit erleben: Ein Tag auf so einer Fernwanderung besteht aus wenigen Dingen: Laufen, Essen, abends Klamotten waschen, Menschen treffen, schlafen. Das war’s. Es gibt nicht viel zu planen (wenn man sich für einen Weg wie den Jakobsweg entscheidet, der weitestgehend durch Zivilisation führt).
Auch was Besitz angeht, ist eine Fernwanderung eine Vereinfachung. Ich erlebe zu viel Besitz oft als Belastung. Auf einer Fernwanderung habe ich alles, was ich brauche, in meinem Rucksack. Es ist (fast) egal, ob ich 1 Woche laufe, 2 Wochen oder 3 Monate: Ich brauche immer die gleichen Dinge. Und es ist nicht viel, dass ich wirklich brauche.

Ich möchte die Natur und mich selbst spüren: Die Verbindung zu mir selbst geht mir in meinem Alltag zu oft verloren. Er besteht aus vielen Stunden am PC, Telefon, E-Mails, Excel-Tabellen und der permanenten Aufforderung, Leistung, Leistung und noch mehr Leistung. Schnell kann dabei die Verbindung zu mir selbst verloren gehen. Beim Fernwandern soll es für mich nicht um Leistung gehen, sondern darum, dass ich spüre, was jetzt gerade für mich angebracht ist: Eine Pause, obwohl ich erst seit 45 Minuten unterwegs bin? Ein Ruhetag, obwohl der nächste erst in 3 Tagen geplant ist? Stehen bleiben und an Blumen riechen? Den Vögeln lauschen? Oder zackig voranmarschieren?
Ich freue mich darauf, jeden Tag draußen zu sein – und zwar den ganzen Tag. Ich werde im Frühling aufbrechen, wenn die Natur wiedererwacht. Alles wird grün, das Leben kommt zurück. Die Natur um mich herum ist die gleiche, die auch in mir selbst und durch mich durch lebt.

Es gibt natürlich noch mehr Gründe, warum "man" fernwandert:

  • den inneren Schweinehund besiegen
  • das Erfolgserlebnis, wenn man eine Tagesetappe oder eine ganze Tour geschafft hat
  • der Kontakt mit anderen Menschen und die Gemeinschaft erleben
  • Landschaften bewusst wahrnehmen, Kulturlandschaften näher kennen lernen und die Menschen, die sie prägen
  • Natürlich tut man durch eine Fernwanderung auch etwas für die eigene Gesundheit.
  • Auch die Sicht auf das Wesentliche wird durch den "erzwungenen Minimalismus" verändert.

Und ja, ich tue es auch, um andere Menschen dazu zu verlocken, ebenfalls einmal den Alltag und ihre Probleme hinter sich zu lassen und daran Gefallen zu finden, auf Zeit ein Leben wie ein Vagabund zu führen.