Wandertagebuch Juni 2023

Im Juni mache ich Fortschritte, aber ein derber Rückschlag lässt mich das vorzeitige Ende meiner Reise planen. Doch dann gibt es eine überraschende Wendung. Ich mache außerdem Begegnungen, die mich zum Nachdenken anregen.

Woche 8: Monreal bis Pimbo: Fortschritte und ein derber Rückschlag

Weil es meinen Füßen besser geht, trage ich meinen Rucksack wieder selbst. Dadurch bin ich flexibel. Wenn man den Gepäcktransport in Anspruch nimmt, sollte man sich bereits eine Übernachtungssmöglichkeit organisiert haben. Da ich das jetzt nicht mehr mache, kann ich einfach losziehen und spontan entscheiden, wo ich bleibe. Am liebsten mag ich an ganz kleinen Orten irgendwo im Nirgendwo übernachten. Juni ist in Frankreich keine Ferienzeit und so finde ich immer gut einen Schlafplatz. Meine Stimmung bessert sich durch meine zurückgewonnene Spontaneität und durch die Hoffnung auf vollständige Heilung meiner Achillessehne.

In dieser Woche kann ich sehen, dass ich trotz aller Schwierigkeiten vorangekommen bin. Der Besitzer einer Herberge erzählt mir, dass ich ab hier die Pyrenäen sehen kann - passendes Wetter vorausgesetzt. Das berührt mich, denn die Pyrenäen sind ein wichtiger Punkt. Dort endet dieser Teil des Jakobswegs und ein neuer Abschnitt beginnt, der ganz anders sein wird. Dort endet Frankreich und Spanien beginnt. Der Horizont ist in diesen Tagen aber immer bewölkt und die Pyrenäen zeigen sich mir noch nicht.

Für ein paar Tage wandere ich zusammen mit Robert aus Österreich. Beim Wandern sucht er Kräuter und Blätter vom Wegrand und macht sich dann einen Salat daraus. Er schläft in Kirchen und Kapellen und fragt unterwegs bei Privatleuten oder Herbergsbetreibern, ob er sich in ihrer Küche seine Linsen kochen darf. Es ist schön, endlich mal für mehrere Tage eine Begleitung zu haben. Die meisten meiner Mitpilger sind am nächsten Tag auf und davon, weil ich immer noch darauf achten muss, meine Füße nicht zu überlasten. Zu selten treffe ich die gleichen Menschen mehrmals.

Die Landschaft des Gers besteht hauptsächlich aus Feldern. Die Vorfreude auf die Pyrenäen treibt mich hier voran.


Außerdem erreiche ich den Punkt, an dem es bis Santiago de Compostela noch 1000 km sind. Ob ich es bis Santiago schaffe, ist inzwischen weniger wichtig geworden. Es ist das tägliche Gehen, das Reisen, das Unterwegssein und die Erfahrungen, die ich dabei mache, die zählen. Der Weg ist zum Ziel geworden, auch wenn ein Teil von mir wirklich gern Santiago erreichen würde.

Eines Nachmittags kommen Robert und ich im Dorf Lamothe zur Herberge "Le Mille Borne" (dt. "1000 km", die auch ein Café für vorbeiziehende Wanderer ist. Robert fragt dort, ob er sich seine Linsen kochen kann und die Herbergsbetreiber sind einverstanden. Ich habe Magenschmerzen an diesem Tag. Robert hat für mich unterwegs Minze gesammelt und so trinke ich einen Minztee. Das Dorf besteht nur aus ein paar Häusern. Es ist dort sehr ruhig und entspannt. Mir gefällt es so gut an diesem Ort, dass ich mich dafür entscheide, an diesem Tag nicht weiter zu gehen, sondern an diesem schönen Ort zu bleiben. Wir sehen einen wunderbaren Sonnenuntergang.

In einer friedlichen Herberge ca. 1000 km vor Santiago In einer friedlichen Herberge ca. 1000 km vor Santiago


In einer weiteren Herberge lerne ich eine Chiropraktikerin kennen. Sie setzt sich in den Kopf, mein Bein zu "reparieren" und massiert heftig. Am nächsten Tag fällt mir das Laufen schwer und die Sehne schmerzt so sehr wie lange nicht. Ich hoffe zunächst, dass dies eine Heilreaktion auf die Massage ist. Aber auch am nächsten und übernächsten Tag ist es nicht besser. Ich scheine einen großen Rückschritt gemacht zu haben. Ich hatte mich mit dem Gedanken abgefunden, meinen Beinen auf dem französischen Teil des Jakobswegs alles zu geben, was für die Heilung notwendig ist. In meiner Vorstellung würde ich dann in San Jean Pied de Port geheilt ankommen und könnte den Rest meiner Reise so fortsetzen, wie ich es mir gewünscht habe. An dieser Hoffnung habe ich mich festgehalten. Daraus scheint aber nichts zu werden. Ich weiß nicht, ob ich den Willen und die Geduld habe, in Spanien weiterhin kleine Etappen zu gehen. Im Moment weiß ich nicht weiter. Es wird so schlimm, dass mir selbst 10 km schon schwer fallen und ich an einem Tag in dem kleinen Dorf Pimbo meine Tageswanderung vorzeitig beende. Dort gibt es eine Herberge und ein Restaurant. Und dort sehe ich zum ersten Mal die Pyrenäen am Horizont! Es verschlägt mir die Sprache und es berührt mich zutiefst. Auf den Gipfeln liegt noch Schnee. Trotz aller Schwierigkeiten und Rückschritte sehe ich nun ganz deutlich, dass ich vorangekommen bin und dass der französische Teil des Jakobswegs bald enden wird.

Die Pyrenäen am Horizont sind noch etwas fotoscheu. Bald endet der französische Teil des Jakobswegs


Auf der Terrasse des Restaurants in Pimbo lerne ich Tim aus England kennen. Er ist Künstler und hat vor der Reise ein Studio gemietet, das vier Tage vor der Reise abgebrannt ist. Der Schaden beträgt ca. 30.000 Euro. Tim ist nicht versichert und bereits im Rentenalter. Trotzdem ist er positiv. Das beeindruckt mich. Er wird bis Sant Jean Pied de Port gehen, dann nach Hause zurückkehren und das Beste aus seiner Situation machen. Er versucht mich gedanklich dahin zu bewegen, dass ich positiver und kreativer mit meiner Situation umgehe. Unser Gespräch hallt noch lange in meinem Kopf nach.

Woche 9: Pimbo bis Saint Jean Pied de Port – Das Ende meiner Reise?

Ich kann beim Wandern die Pyrenäen immer vor mir sehen und beobachte, wie sich die Landschaft langsam verändert. Hinter Pimbo gibt es ein paar Wellen im Boden, die immer höher werden. Das ist bereits das Pyrenäenvorland.

Als ich Pimbo verlasse, bin ich verzweifelt. Saint Jean Pied de Port ist nah und die Heilung meines Fußes erscheint so fern. Ich bin sehr verdrossen. Ich habe keine Geduld, um weiterhin mit Einschränkungen zu wandern. Ich habe genug von der "Kilometerdiät". Warum kann mein Körper nicht einfach gehen? Dafür ist er doch gemacht! Zum Aufgeben bin ich aber auch noch nicht ganz bereit. 

Einen Versuch mache ich noch. In Pimbo hat mir eine Mitpilgerin zu Einlegesohlen geraten. Wie es der Zufall will, gibt es in Arzacqu eine Podologin und Orthopädietechnikerin. Also gehe ich ins Ärztehaus und bitte darum, sie noch am gleichen Nachmittag zu sehen. Sie lässt mich auf und ab gehen und sieht, dass der Fuß nach innen gedreht ist. Wenn es eine Fehlstellung gibt, kann sie mir keine Sohlen machen. Also schickt sie mich weiter zur Osteopathin. Auch sie sieht eine Fehlstellung und zwar im Becken, die sie korrigiert. Als ich die Praxis der Osteopathin verlasse, spüre ich eine Veränderung. Das Bein "geht" irgendwie anders.

Trotzdem glaube ich nach all meinen Bemühungen nicht, dass ich damit endlich den Schlüssel zur Heilung gefunden habe und entscheide ich mich dafür, die Reise in Saint Jean Pied de Port zu beenden. Ich möchte, dass meine Füße endlich heilen. Der Weg ist ja später immer noch da. Obwohl ich so vorsichtig gewesen bin und einfach alles versucht habe, habe ich immer noch Schmerzen und kann die Reise nicht wie gewünscht machen. Ich schaue bereits nach Zugverbindungen nach Hause. Aber immer, wenn ich mit meinen Mitpilgern über das Ende meiner Reise rede, überkommt mich große Trauer. Es fällt mir trotz allen Schwierigkeiten so schwer, den Jakobsweg zu verlassen.

Es ist nicht mehr weit bis Saint Jean Pied de Port Die Via Podiensis ist der Teil des Jakobswegs von Le Puy nach Saint Jean Pied de Port. Sie wird für mich zur Geduldsprobe

Die Umgebung verändert sich weiter. Ich sehe immer mehr baskische Wörter. Die Hügel werden höher und grüner und lassen mich die Pyrenäen bereits erfühlen. Auch die Bauweise der Häuser verändert sich. Typische Baskenhäuser sind weiß mit Balken und Fensterläden in dem typischen "Baskenrot". Ich mag es, beim Wandern diese langsamen Übergänge mitzubekommen.


In Navarrenx lerne ich Judith kennen. Sie ist von zu Hause losgelaufen. Wir sind ähnlich lange unterwegs und ich kenne den größten Teil der Strecke, die sie gelaufen ist, weil ich ihn zuvor in mehreren Etappen gelaufen bin. Wir erzählen uns von Aufs und Abs unserer Reise. Ich sage ihr, dass ich in Saint-Jean Pied de Port aufhören werde. Sie geht an diesem Tag noch weiter bis an ihr Etappenziel in dem Glauben, dass ich in Saint Jean Pied den Jakobsweg verlassen werde.  Es ist eine kurze Begegnung an einem Nachmittag in einem Café in Navarrenx, die bei uns beiden noch nachhallt. Zu einem viel späteren Zeitpunkt wird daraus eine meiner magischsten Begegnungen auf dem Jakobsweg.

Am folgenden Tag bin ich rat- und energielos. Ich weiß nicht so richtig, wie ich die nächsten Etappen planen soll und dabei auf meinen Fuß Rücksicht nehmen kann. Eine Verschlechterung will ich nicht riskieren, auch wenn ich bald nach Hause fahren werde, um dem Fuß die Heilung zu ermöglichen. In einem kleinen Dorf sitze ich zunächst eine ganze Weile auf einer Bank und kann mich einfach nicht entschließen, loszugehen. Irgendwann raffe ich mich dann auf. Als ich um die nächste Ecke biege, finde ich eine Herberge mit einer Bar und einigen Regalen mit Lebensmitteln, die man kaufen kann. Ich untersuche unschlüssig die Regale und überlege, ob ich am Abend nicht irgendwo campen kann. Die nächsten Orte sind etwas außer meiner Reichweite, wenn ich meinen Fuß schonen will. Die Herbergsbetreiberin Marie bietet mir ein Wasser an und ich nehme dankend an. Ich setze mich erst einmal und sage ihr, dass ich nicht weiß, wohin ich gehen soll, weil ich maximal 15 km pro Tag gehen kann. Sie holt einen Zettel und erstellt mir innerhalb von ein paar Minuten einen Plan für die nächsten Etappen bis Saint Jean Pied. Dabei würde mich die heutige Etappe in eine 5 km entfernte Kapelle führen. Dort gibt es eine Art Vorraum, in dem man schlafen kann oder man kann davor auf der Wiese campen. Neben der Kapelle gibt es einen Friedhof und auf französischen Friedhöfen gibt es in der Regel Trinkwasser. Es wäre eine Minietappe, aber immerhin würde es etwas vorangehen.

Mittlerweile ist es Mittag geworden und ich bitte sie, mir ein Omelette zu machen. Während ich esse, kommen weitere Pilger und es wird eine nette Runde. Da ist Philippe aus Portugal. Er kann nicht viel gehen und begleitet seine Frau Regine mit dem Camper. Und da Michel aus der Bretagne. Er weiß auch noch nicht so richtig, wie weit er an diesem Tag gehen möchte. Er geht selten in Herbergen. Die nahe Kapelle ist daher ein interessantes Ziel für ihn. Wir trinken ein Bier zusammen und brechen zu viert zur Kapelle auf. Philippe und Regine schlafen im Camper vor der Kapelle. Ich schlage mein Zelt auf der Wiese auf. Michel wählt den Vorraum.

Ich mag die Übernachtung an ungewöhnlichen Orten. Hier beziehen Michel (links), Regine (rechts) und ich unser "Quartier" in und vor dieser Kapelle.


Der übernächste Tag bringt eine Wendung in meine Pläne. Es ist die vorletzte Etappe vor Saint Jean Pied de Port, wo ich – wie ich zu diesem Zeitpunkt glaube – meinen Jakobsweg beenden werde. Diese Etappe sollte mich zu einer Schutzhütte führen, in der Betten stehen. Sie sollte laut Marie 15 km betragen. Das wäre gerade noch im Rahmen. Unterwegs versichere ich mich bei einer Pause in einer Bar im Dorf Ostabat noch einmal wegen der Entfernung und bekomme die gleiche Information. Also gehe ich weiter. Nach 15 km ist von einer Hütte jedoch keine Spur. Also frage ich noch einmal, wie weit es ist und mir wird gesagt, sie sei ganz nah – was relativ ist. Letztendlich erreiche ich die Hütte nach 19 km. Dabei hat mein Fuß gut mitgemacht. Ich bin perplex. Vielleicht geht es ja doch? Das möchte ich natürlich rausfinden. Unter diesen Umständen kann ich auf keinen Fall in Saint Jean Pied de Port aufhören. Ich kann noch 75-100 km weiter bis zum Atlantik gehen. Dort kann ich ja immer noch die Reise abbrechen. In der Hütte bekomme ich das letzte von den 4 vorhandenen Betten. Ich treffe dort mal wieder zwei Pilger, die ihre Achillissehnenentzündung unterwegs kuriert haben. Funktioniert es bei allen außer bei mir? Oder hat die Heilung inzwischen doch eingesetzt?

Übernachtung in einer unbewirtschafteten Schutzhütte bei Utziate Übernachtung in einer unbewirtschafteten Schutzhütte
Ostabat, kurz vor Saint Jean Pied de Port Ostabat, kurz vor Saint Jean Pied de Port. Grüne Hügel, Baskenhäuser und die baskische Sprache geben dieser Region ein eigenes Flair.


Fast geschafft! Trotz aller Schwierigkeiten liegen fast 800 km Via Podiensis hinter mir

Dann die finale Etappe nach Saint Jean Pied de Port. Ich bin so wahnsinnig erleichtert, dass ich von dort nicht nach Hause fahren werde. Ich bin einfach noch nicht fertig mit der Reise. Ich bin glücklich und stolz, es trotz allem bis Saint Jean Pied de Port geschafft zu haben. 

In Saint Jean Pied treffe ich Tim wieder, der eine positive Veränderung bei mir bemerkt. Das freut ihn sehr. In den letzten Tagen hatte ich tolle Begegnungen, habe an interessanten Plätzen übernachtet und habe erlebt, dass es auf dem Jakobsweg ungewöhnliche Wendungen geben kann. Kein Wunder, dass dies meine Stimmung bessert. 

In Saint Jean Pied de Port endet der französische Teil des Jakobswegs (bzw. der Via Podiensis, wie dieser Teil des Jakobswegs dort eigentlich heißt). Ich habe doppelt so lange wie geplant dafür gebraucht. Bis hierher war der Jakobsweg eine einzige Geduldsprobe. Die zurückgelegten 750 km waren eine deftige Lektion darin, dass mein Körper nicht alles mitmacht und wie ich darauf reagiere, wenn Dinge nicht nach Plan laufen. Jetzt geht es bald nach Spanien und dort wird – so sagt man mir – Pilgern ganz anders sein. Aber zunächst habe ich noch ein paar Kilometer in Frankreich bis zum Atlantik vor mir.

 

"Folge deinen Träumen. Sie kennen den Weg."


Woche 10 und 10,5: Saint Jean Pied nach Irun: Um- und Abwege

In Saint Jean Pied de Port bin ich bereit für einen neuen Abschnitt meines Weges. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann direkt nach Roncesvalles in den spanischen Pyrenäen gehen. Damit beginnt man den Camino Frances, den der Großteil der Pilger geht. Ich jedoch möchte den Küstenweg (Camino del Norte) und dann den Camino Primitivo gehen. Der Küstenweg beginnt am Atlantik. Das sind von Saint Jean Pied de Port aus 75-100 km, je nachdem wo man langgeht. Man kann den GR10 gehen. Das ist ein Fernwanderweg durch die Pyrenäen. Das war immer mein Wunsch gewesen, da ich schon ein Stück auf dem GR10 Richtung Osten gegangen bin. Allerdings ist dies kein leichter Weg. Ich habe Bedenken, ob es meinem Fuß gut genug geht, um ihn sicher zu bewältigen. Ich muss bald einsehen, dass man für diesen Weg zwei gesunde Füße braucht. Als Alternative bleibt noch ein etwas kürzerer Verbindungsweg für Pilger, der viel einfacher ist.
Die erste Etappe auf diesem Weg führt mich nach St. Etienne de Baïgorry. Dort schlage ich mein Zelt auf einem Campingplatz auf. Dort habe ich einen interessanten Nachbarn: Alain lebt dort für ein paar Wochen in einem Zelt bevor er sich einen Job in den Pyrenäen sucht. Alles, was er hat, ist dort in seinem Zelt. Es ist sein einziges zu Hause. Zunächst halte ich ihn für einen Obdachlosen. Doch er hat dieses Leben so gewählt. Es ist ein Leben in Einfachheit und Freiheit. Als er mir das erzählt, leuchten seine Augen.

Auf dem Zubringerweg zum Camino del Norte gibt es wenig Infrastruktur. Ich kann bei einem Bauern auf der Wiese übernachten.


Auf dem Zubringerweg zu wandern ist eine ganz eigene Erfahrung. Ich kann mich nicht erinnern, andere Pilger gesehen zu haben. Es ist dort wirklich ruhig. Das liegt daran, dass die meisten Menschen keine so lange Wanderung machen, dass dieser Verbindungsweg für sie relevant wäre. Und wenn sie es doch tun, dann wählen sie mit größerer Wahrscheinlichkeit den Camino Frances. In diesen Tagen sehe ich zum ersten Mal den Atlantik. Obwohl der letzte Meilenstein gerade erst hinter mir liegt, ist dieser auch noch mal sehr bewegend. Ich habe es mit Einschränkungen zu Fuß bis an den Atlantik geschafft.

Der GR10 Da oben auf dem Kamm läuft der GR10 lang. Ich wähle eine Variante im Tal.


Ich mag den GR10 aber noch nicht ganz aufgeben. Wenigstens die weniger schwierigen Etappen könnte ich doch machen...? Nach ein paar Tagen nehme ich einen Umweg in Kauf, um den GR10 doch noch zu erreichen. Dort komme ich jedoch nicht weit. Starker Regen spült mich in eine Herberge. Sie gehört André -genannt "Dédé". Seine Herberge ist ein großes Haus mit Swimmingpool und Hühnern. Er führt die Herberge ganz allein. Es ist eine der schmutzigsten und chaotischsten Herbergen, die ich auf dem ganzen Jakobsweg gesehen habe. Aber Dédé macht das durch sein großes Talent als Gastgeber wieder wett. Er braucht Hilfe und ich möchte noch mal ein paar Tage meinem Fuß eine Laufpause zu gönnen. Ich nehme mir vor, ihm in seinem Chaos zu helfen ohne ihm meine Vorstellungen aufzudrücken, wie die Dinge zu sein haben.

Der Essbereich von Dédés Herberge. Hier pausiere ich erneut und helfe ihm so gut es geht.


Wir bekommen auch Hilfe von Jane. Sie ist Dänin und lebt eigentlich in Südspanien. Ihr zu Hause hat sie aufgegeben, um über den Sommer bei Dédé zu helfen und in den Pyrenäen ein neues Heim zu finden. Auch sie juckt es, Dédés dreckige Herberge auf Vordermann zu bringen. Leider kann Dédé das nicht schätzen. Wir legen uns ins Zeug, damit die Herberge jeden Tag ein bisschen mehr erstrahlt. Aber Dédé wird währenddessen immer unzufriedener mit Jane. Er giftet sie ständig an. Jeden Tag mehr. Jedes Mal tut mir dabei mein Fuß weh.
Eines Abends nach dem Essen sagt Dédé uns sehr deutlich, was seine Vorstellung von guter Arbeit ist: Er bevorzugt es, dass wir um 10:00 Uhr morgens alles fertig haben. Die Herberge ist dann ab 17:00 Uhr für Gäste geöffnet. In der Zwischenzeit möchte er gern Dinge mit uns unternehmen. Er hält seine Herberge im Allgemeinen für sauber und versteht nicht, dass Frauen überall rumputzen müssen, obwohl es unnötig sei.

Ich schlafe unruhig in Dédés Haus. Auch in der Nacht nach dem Gespräch wache ich auf. Es riecht verbrannt und ich gehe runter in die Küche um nachzusehen. Auf dem Weg in die Küche wird der Rauch stark und es wird wärmer, je näher ich der Küche komme. Zum Glück gibt es keine Flammen. Auf dem Gasherd steht ein Topf und es klingt, als würde man Popcorn zubereiten. Dédé hat Eier gekocht und den Topf auf dem Herd vergessen. Das Wasser ist verkocht, die Eier verkohlt und sie machen "plopp plopp". Ich stelle den Herd ab und mache die Fenster auf, um zu lüften. Dadurch wird Dédé wach und kommt aufgebracht in die Küche gerannt. Er ist splitterfasernackt. Er stellt sich neben mich an den Herd und schaut verdutzt in den verbrannten Topf: "Ich kann mich gar nicht daran erinnern, Eier gekocht zu haben!". Ok, ich habe für diesen Tag meine gute Tat getan und uns vor dem Feuertot bewahrt. Ich bin aber noch im Halbschlaf. Ich lasse Dédé nackt am Herd mit den verbrannten Eiern stehen und gehe wieder schlafen. Ich bin optimistisch, dass wir den Rest der Nacht auch noch überleben werden.

Nach einigen Tagen verlässt Jane die Herberge. Wir verstehen uns sehr gut und ich gehe mit ihr.  Wir verbringen einige Tage irgendwo im baskischen Hinterland. Wir reden, wir gehen spazieren, wir essen, wir schlafen, wir schweigen, Jane rätselt, wie es für sie weiter geht, ich bereite mich auf die Fortsetzung des Jakobswegs vor. Ich bewundere Janes Mut, Optimismus und ihre Unabhängigkeit. Um den Sommer bei Dédé zu verbringen und ein neues Heim in Nordspanien zu finden, hat sie ihre Wohnung aufgegeben. Das verfrühte Ende ihres Jobs bei Dédé hat ihre Pläne total durchkreuzt. Jetzt ist sie sozusagen obdachlos. Trotzdem ist sie nicht besorgt. Sie hat großes Vertrauen, dass sich die Dinge regeln werden. Wie oft habe ich in den letzten Wochen darüber gequängelt, dass meine Reise nicht nach meinen Vorstellungen läuft und ich wegen einer Fußverletzung meine Pläne anpassen muss. Jane hängt im Moment völlig in der Luft. Trotzdem jammert sie nicht. Sie bleibt ruhig und gibt den Dingen ihre Zeit, sich zu entwickeln.

In den letzten zwei Wochen habe Begegnungen gemacht, die mich inspirieren, beflügeln, wachrütteln und aufbauen. Ich fühle mich glücklich und beschenkt. Immer wenn ich denke, es könnte nicht besser werden, setzt das Leben noch eins drauf. Ich bin so zufrieden, dass ich ohne Klagen nach Hause fahren könnte, wenn ich es aus irgendeinem Grund müsste. Jetzt wäre es ok. Zum Glück muss ich nicht weg, denn – im Nachhinein betrachtet – ist das erst der Anfang meiner glücklichsten Zeit auf dem Jakobsweg.
Als Jane und ich unsere gemeinsame Zeit im Baskenland beenden, geht es meinem Fuß so gut, dass ich keinen Druckschmerz auf der Achillessehne mehr habe. Jane bringt mich nach Irun und ich begebe mich endlich auf den Camino del Norte.

Angekommen am Atlantik - ein weiterer wichtiger Meilenstein für mich.


In Irun lasse ich Frankreich hinter mir und es geht - endlich - nach Spanien.