Wandertagebuch Jakobsweg April 2023

Aller Anfang ist schwer. Hier erfährst du von den Startschwierigkeiten, die ich dabei hatte, aber auch von Erlebnissen, die das "Salz in der Suppe" waren.

Woche 1: Montfaucon en Velay bis Le Puy-en-Velay, ca 59 km

Endlich bin ich nach der langen Zeit der Vorbereitung an meinem Ausgangsort Montfaucon-en-Velay in der Auvergne angekommen.
Meine Reise beginne ich mit einem Experiment: Ich wandere mit Zelt und habe vor, mir auch immer wieder schöne
Übernachtungsplätze in der Natur zu suchen. Damit habe ich bisher noch keine Erfahrung und ich möc hte es gleich ausprobieren. Ein Wohlfühlplatz im Wald ist bald gefunden.
Meine erste Waldübernachtung verläuft friedlich.

Das Ziel der ersten Tagesetappe sollte St. Jeures sein. Als ich dort ankomme, finde ich heraus, dass eine der Herbergen nicht mehr existiert und die andere erst im Mai öffnet. Der Besitzer schickt mich 4km weiter nach Araules. Unterwegs regnet es und der Wind ist eisig. Ich freue mich auf ein warmes Zimmer und eine heiße Dusche. Ich habe Glück und komme in der einzigen Pilgerunterkunft im Ort bei Gilbert und Ninou unter. Am nächsten Morgen bin ich ausgeschlafen und durchgewärmt und mache mich gut gelaunt auf den Weg. Die Auvergne zeigt sich kalt und grau. Die Natur scheint noch zu schlafen und das graue Basaltgestein der Häuser verstärkt diesen Eindruck noch. Es fallen sogar Schneeflocken.

Dorf, das um einen ehemaligen Vulklan erbaut wurde. Das kleine Dorf ist um einen ehemaligen Vulkan gebaut. Schneeregen fällt.

Am nächsten Tag lerne ich Aude kennen und wir gehen wir die Etappe nach Le Puy gemeinsam. Aude erzählt mir, dass sie die Weltmeisterschaft im Eisschwimmen mitgemacht hat. Die Etappe verläuft hauptsächlich über Asphalt und ist landschaftlich nicht besonders interessant. So sind wir zügig unterwegs und erreichen Le Puy en Velay bereits Mittags.

In Le Puy en-Velay komme ich in einer Herberge ("Gite" sagt man in Frankreich dazu) unter. Dort gibt es einen Schlafsaal mit 14 Betten und eine Küche.  In der Unterkunft lerne ich unter anderem Sam aus Südkorea kennen. Er will den Jakobsweg mit dem Fahrrad machen. Das wird er sich bei Decathlon am nächsten Tag kaufen und gleich losfahren Richtung Santiago de Compostella.

Am 4. Tag meiner Reise sehe ich mir das Städtchen Le Puy en Velay an und besuche die große rote Marienstatue, die aus Kanonenkugeln gegossen wurde und St. Michel, eine Kapelle, die auf einem Vulkan gebaut wurde.

Die Kapelle St. Michel in Le Puy en Velay Die Kapelle St. Michel in Le Puy en Velay


Die 3 Tage durch die Auvergne waren für mich eher der "Prolog" zu meiner Reise. In Le Puy-en-Velay geht es erst richtig los. Ich besuche die Segnung der Pilger, was für mich eine Gelegenheit ist, ein bisschen zur Ruhe zu kommen und an die zu denken, die mich zu dieser Reise ermutigt haben und die sie auf ihre Art unterstützen.

Die Segnung endet mit dem Auszug der Pilger aus der Kathedrale. Es gibt ein spezielles Tor, durch das die Pilger auf den Weg geschickt werden. Man geht zunächst eine Treppe mitten im Kirchenboden nach unten, kommt dann zu einem Ausgang der Kirche, der nur zu diesem speziellen Anlass benutzt wird und hat dann den Blick über die Stadt. Ich nehme mir Zeit dafür und tue diese Schritte bewusst. Es ist, als würde ich durch den Bauchnabel der Kathedrale in den Weg hineingeboren.

Nach der Pilgersegnung auf den Stufen der Kathedrale von Le Puy en Velay Nach der Pilgersegnung auf den Stufen der Kathedrale von Le Puy en Velay


Es macht sich nach der Messe ein regelrechter Strom an Pilgern auf den Weg. War die Begegnung mit anderen Pilgern eher die Ausnahme, bin ich nun überwältigt von der Menge an Leuten, die sich mit mir auf den Weg machen. Die Landschaft ist hier wunderschön. Es eröffnen sich Blicke in die Weite. Es ist kalt, aber sonnig.


Woche 2: Von Le Puy-en-Velay nach Quatre Chemin, ca. 108km
Der Organisationsstress hört jetzt auf!

Von Le Puy-en-Velay nach St. Privat d'Allier
Die Etappen nach dem Aufbruch aus Le Puy-en-Velay sind eine große Herausforderung. Ich bin es nicht gewohnt, so viele Menschen um mich zu haben, die außerdem immer zu Small-Talk aufgelegt sind. Mir setzen auch Wind und Kälte zu. Die Suche nach Unterkünften nimmt meine gesamte freie Zeit in Anspruch. Es sind ungewöhnlich viele Pilger unterwegs und freie Betten schwer zu finden. Dadurch muss ich auch Etappen gehen, die viel zu diesem Zeitpunkt noch viel zu lang sind und meinen noch trägen Gehapparat überlasten.

Von Sauges nach Les Faux
Von Sauges aus ist die nächste freie Unterkunft erst in Les Faux zu finden. Das bedeutet einen Marsch von 27,5 km. Meinem Körper war es dann doch zu viel. Es haben sich Schmerzen eingestellt in den Füßen, den Achillessehnen und den Knien. Nicht stark, aber mein Körper will mir wohl etwas sagen. Wenn es sich um einen Urlaub von 2 oder 3 Wochen handeln würde, würde ich sie wahrscheinlich übergehen, denn dann wüsste ich, dass sich mein Körper zu Hause wieder regeneriert. Hier auf meiner langen Wanderung muss ich anders damit umgehen.

Ich wurde vor meiner Reise oft gefragt, ob ich denn keine Angst vor der langen Wanderung allein habe. Ich habe nie verstanden, wovor man Angst haben könnte. Aber Angst und Sorge in Bezug auf meine Wanderung kenne ich durchaus. Es ist meine größte Sorge, dass ich die Reise abbrechen muss, weil mein Körper nicht mitmacht. Ich wäre nicht die erste, der das passiert und - obwohl ich etwas trainiert habe - bin ich weder sonderlich fit noch sportlich.

Noch 1469 km bis Santiago de Compostela Noch 1469 km bis Santiago de Compostela


Les Faux - Aumont-Aubrac
Am nächsten Tag geht es von Les Faux aus weiter nach Aumont-Aubrac. Es sind ca. 21km. Es ist herrliches Frühlingswetter und die Sonne strahlt. Nach vielen grauen und kalten Tagen kann ich das gut gebrauchen. Ich gehe durch eine weite, grüne Landschaft mit grauen Steinhäusern. Es ist fast wie in Irland.

In Aumont-Aubrac komme ich gegen 18:00 Uhr an. Ich habe ein Hotelzimmer gebucht, denn ich werde am nächsten Vormittag einen Ort brauchen, an dem ich 3 Stunden lang an einer Videokonferenz teilnehmen kann, ohne dass jemand mit dem Staubsauger um mich herum putzt.

Ich nehme an einem Pilgeressen teil, bei dem Aligot serviert wird. Das ist eine regionale Spezialität bestehend aus Kartoffelpüree mit Käse, das beim Servieren lange Fäden zieht.

Ich entscheide mich dafür, von Aumont-Aubrac aus ins Unbekannte zu laufen. Ich werde keine Unterkünfte mehr im Voraus organisieren. Das Telefonieren, das mir täglich viel Zeit raubt, hört jetzt auf! Ich werde jetzt einfach losgehen und sehen, was passiert.

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In einer Kirche habe ich folgendes Gedicht entdeckt:
Ich werde nicht nur eine Reise antreten….
….sondern ich werde unter der heißen Sonne gehen,
im strömenden Regen und im Sturm.
Die Sonne wird beim Gehen mein hartes Herz erwärmen,
der Regen wird aus meinen Wünschen einen Garten machen.
Meine Sohlen werden sich abnutzen und mit ihnen auch meine Gewohnheiten,
ich werde gehen und aus dem Gehen wird ein Vorgang werden.
Ich werde weniger das Ende des Weges erreichen, sondern vielmehr
das Verborgenste meines Wesens kennen lernen.
Als Pilger geht man sich selbst entgegen. Wehrlos sich selbst,
aber auch den anderen gegenüber und dem Herrn.
Ich werde Pilger sein, nicht nur Reisender.
Ich selbst werde Reise werden, Pilgerreise.
Jean Debruynne


Woche 3: Quatre Chemins nach Golinhac, 72,7 km. Stopp and Go

Nach ein paar Tagen Genesungsspause in Aumont-Aubrac mache ich mich wieder auf den Weg. Ich laufe 10-12 km pro Tag, in der Hoffnung, dass sich die Achillessehnen nicht weiter entzünden. Daher führt mich diese Etappe in das Dorf Quarte Chemins, das nur aus ca. 4 Häusern besteht. In der Herberge habe ich nicht reserviert, denn nachdem mich das übermäßig Zeit und Nerven gekostet hat, entscheide ich mich täglich für den Aufbruch ins Unbekannte und vertraue darauf, dass sich immer eine Lösung finden wird. Es regnet, als ich in der kleinen Siedlung ankomme. Ich trete in die Herberge ein und treffe die Dame des Hauses. Ich sage, dass ich nicht reserviert habe. Zunächst sagt sie, sie wäre ausgebucht, findet aber noch ein Bett für mich. Mein Vorsatz, ab jetzt auf Reservierungen zu verzichten, führt also nicht dazu, dass ich auf der Straße oder in der Käte schlafe. Ich freue mich darüber, dass ich heute damit Erfolg hatte.

Ich habe Schwierigkeiten damit , mein warmes zu Hause und geordnetes, vorhersehbares Leben verlassen zu haben. Ich vermisse Ruhe und Wärme. Auf die Temperaturen auf über 900m Höhe im April bin ich nicht ausreichend vorbereitet. Die Franzosen sind wahnsinnig freundlich und kontaktfreudig. Und wenn niemand zum Reden da ist, reden sie mit sich selbst. Im Schlafsaal hört man dann rhetorische Fragen wie z.B.: "Wo sind denn meine Socken?" oder "Ich muss mein Telefon aufladen". Wenn sie mich beim Wandern überholen, gibt es ganz sicher ein paar Worte wie "Ganz schön kalt, hä?" oder "Puh, steiler Anstieg". Mir war ist diese Eigenschaft neu. Ich finde das im Grunde sehr sympathisch, aber im Moment bin ich so sehr mit der Umstellung auf das Fernwandererleben beschäftigt, dass ich viel Ruhe brauche. 

Quarte Chemins - Nasbinal

Beim Frühstück in der Herberge in Quatre Chemins sprechen wir über unsere Etappenziele für den Tag. Der Herbergswirt sagt: " Oh, du gehst nach Nasbinal! Ich hoffe, du hast eine Reservierung, denn dort es ist alles ausgebucht." Ich versuche, mich davon nicht irritieren zu lassen und murmele beiläufig in meine Kaffeetasse: "Ich weiß." Eine Reservierung habe ich nicht und ich habe vor, mein Glück vor Ort zu versuchen.

In Nasbinal frage ich zuerst in der erst besten Herberge auf dem Weg und lasse mich abwimmeln. Kein Problem, denn es gibt noch mehr Herbergen. Ich gehe also in die nächste. Nach etwas Hickhack wird dort ein Notschlafplatz im unausgebauten Teil des Dachgeschosses für mich geschaffen. Der andere Teil des Dachs ist zu einem Zimmer ausgebaut und ich schlafe im Grunde vor der Zimmertür. Den beiden Zimmerbewohnern wird gesagt, dass ich mich auszuruhen muss. Sie sind sehr rücksichtsvoll und leise. Ich bin allen sehr dankbar, dass sie dieses Bedürfnis respektieren. 

Auf dem Jakobsweg muss wirklich niemand allein bleiben. Aber wer allein bleiben möchte, muss sich darum bemühen. 

Nasbinal nach St. Chely

Am nächsten Tag durchwandere ich den schönsten Teil des Aubrac und erreiche das etwas tiefer gelegene St. Chely. Dort ist das Klima milder und freundlicher. Ich atme auf: Ab jetzt wird es wärmer!

In St. Chely muss ich erst eine Unterkunft suchen. Das Schicksal ist auf meiner Seite. Ich komme bei Guilaume unter, der während der Schulferien in diesem Ort eine Herberge zusammen mit seiner Frau Hélène betreibt. Ich versuche als erstes bei ihm mein Glück und tatsächlich: Jemand hat storniert und er hat einen Platz für mich frei. Die Herberge hat sehr privaten Charakter. Es ist das Haus seiner Familie. Im Kamin brennt ein Feuer und die Atmosphäre ist warm und liebevoll. 

Wir reden über Ängste, die Menschen auf den Weg mitbringen. Da sind zum Beispiel, die Angst, es physisch nicht zu schaffen, Angst, auf der Straße zu schlafen oder die Angst vor der Kälte, die mich bisher angetrieben hat. Guillaume und Hélène beobachten außerdem, dass Pilger sich derzeit gegenseitig Angst machen wegen der erschwerten Schlafplatzsuche. Es sind deutlich mehr Pilger unterwegs als zu dieser Zeit üblich und so füllen sich die Herbergen schnell.

Von St. Chely geht es weiter bergab und ich lasse das Hochplateau endgültig hinter mir. In dieser Nacht schlage ich mein Zelt im Wald auf. Es tut mir gut, in der Natur zu sein. Unter mir rauscht ein Bach und nachts ruft ein Käuzchen.


Vom Waldschlafplatz nach Golinhac

Die folgenden Etappen führen mich durch die malerischen mittelalterlichen Orte Espalion und Estaing bis in das Dorf nach Golhinac. Dort gibt es einen Campingplatz mit Herberge, wo ich mein Zelt aufschlagen kann. Man hat dort eine herrliche Aussicht. Es ist ein kleines Dorf und sehr friedlich. Ich entscheide mich für die Übernachtung im Zelt und nehme am gemeinsamen Essen der Herberge teil.

Ich bestelle Aligot mit Bratwurst. Aligot ist Kartoffelpüree mit Käse. Es ist eine Spezialität der Region. Das Aligot verschwindet im "hohlen Zahn" und die Bratwurst füllt diese Lücke auch nicht. Also esse ich den Rest des Brotes vom Tisch. Melanie, eine meiner Mitpilgerinnen, bemerkt meine hungrigen Blicke und es beginnt ein Gespräch über den gesteigerten Hunger, den viele empfinden. Jana aus Finnland hat ihre Pommes nicht aufgegessen. Schließlich leere ich ihren Teller. Damit bin ich aber immer noch nicht ganz satt. Wir entscheiden uns für ein Dessert. Melanie und ich nehmen Mousse au Chocolat. Es ist eines der leckersten Mousse au Chocolat, die ich je gegessen habe. Ich genieße sie langsam, schweigend und bin schier überwältigt von diesem enormen Ausmaß an "Leckerheit". Danach bin ich immer noch nicht satt. Ich bin im Alltag schon eine gute Esserin, aber diese Dimensionen an schwer stillbarem Hunger sind mir neu. Ich erinnere mich an meinen Vorsatz, meinen Jakobsweg genussvoller zu gestalten und bestelle ein zweites. Danach setzt endlich das erste Sättigungsgefühl ein. Aber richtig satt fühle ich mich nicht. Mein Blick fällt immer wieder auf die nicht aufgegessenen Pommes am Nachbartisch. - Ok, am eigenen Tisch die Reste zu essen, geht ja noch, aber sich am Nachbartisch satt zu essen ist ein ganz anderes Niveau. Ich lasse es einfach mal gut sein. Verhungern werde ich nach der Menge an Essen sicher nicht.

Blick vom Campingplatz Golinhac ins Tal der Lot In Golinhac gibt es einen schönen Campingplatz. Mit etwas Glück sieht man morgens ein Nebelband über dem Tal der Lot.


Das waren die ersten Wochen meiner Pilgerwanderung auf dem Jakobsweg. Im Juni habe ich auch mit Schwierigkeiten zu kämpfen, komme aber allmählich in meinem Pilgerleben an. Hier geht es zum Wandertagebuch.