Wandertagebuch Jakobsweg Mai 2023

Im Mai heißt es noch mal sich durchzubeißen, bis es irgendwann besser wird.

Woche 4: Golinhac – Monredon: Es geht kaum voran
Ich verbringe einige Tage in der kleinen, privaten Herberge von Jean-Marie. Er ist nicht nur Herbergsbetreiber, sondern auch Aromatherapeut und Shiatsu-Masseur. Er untersucht meine Füße und schaut auch, ob Schultern und Becken richtig stehen. Er findet, dass mein Becken schief steht und empfiehlt eine Shiatsu-Massage zur Korrektur. Zu diesem Zeitpunkt fehlt mir jedoch das Wissen um die Zusammenhänge in meinem Körper, vor allem im Gehapparat und auch das Vertrauen in Jean-Maries Fähigkeiten. Also lehne ich die Massage ab. Ein paar Wochen später wird sich herausstellen, dass er da etwas auf der Spur war. Aber bis dahin wird sich mein Jakobsweg weiterhin um die Suche nach Heilung meiner Füße drehen und auch um meine mentalen Reaktionen auf diese Einschränkung.

Decazeville ist eine industriegeprägte Kleinstadt. Für einen Pausentag empfiehlt sich eher das Dorf Livinhac-le-Haut ein paar Kilometer weiter. Dort gibt es einen Campingplatz direkt am Fluss. Ich gehöre dort zu den ersten Gästen der Saison.

In dieser Woche und der folgenden Woche mache ich viele Pausentage. Schonung ist der liebste Ratschlag der Franzosen bei Sehnenentzündungen und dem komme ich nach. An zweiter Stelle steht ausreichend Wasser zu trinken. Mein schön ausgedachter Reiseplan ist hin, aber ich versuche verzweifelt, es dennoch irgendwie hinzubiegen. Bei manchen meiner Mitwanderer stößt das auf völliges Unverständnis. Schließlich läuft mir der Weg ja nicht weg. Ich kann diese Verständnislosigkeit nachvollziehen. Aber ich und meine Kollegen haben einigen Aufwand betrieben, um so viel freie Zeit frei zu schaufeln, die ich nicht gern mit Pausentagen und Mini-Etappen verplempern möchte. Zu diesem Zeitpunkt hänge ich noch sehr an meiner ursprünglichen Idee von "meinem" Jakobsweg. Erst nach und nach wird es mir gelingen, mich von manchen Vorstellungen zu lösen und flexibler zu werden. 

Einen Tief- und Wendepunkt erreicht meine Stimmung in Monredon. Dort schlage ich zunächst mein Zelt im Garten einer Herberge auf. Von meinem Schlafplatz habe ich eine wunderbare Aussicht. Von dort sehe ich nicht nur die Landschaft, sondern auch das aufziehende Gewitter. Ich ignoriere das. Schließlich kommt ein so großer Sturm auf, dass sich mein Zelt in ein Segel verwandelt. Mit großer Mühe kann ich es am Wegfliegen hindern. Jemand kommt mir aus der Herberge zur Hilfe und ich kann alle Sachen einsammeln und ins Trockene bringen. Die Nacht verbringe auf meiner Luftmatratze dem Fußboden des Speisesaals und schlafe erst am frühen Morgen erschöpft ein. 

Woche 5: Monredon – Cahors: Die Stille der Causses

Ich verbringe weitere Pausentage in einem AirBnB in Figeac. Ich entscheide mich außerdem dafür, die nächsten Etappen der Reise anders anzugehen. Ich werde die Belastung für meine Füße verringern, indem ich meinen Rucksack transportieren lasse. Es gibt Unternehmen, die sich auf Gepäck- und Pilgertransport spezialisiert haben. Dafür müssen sie jedoch wissen, wohin sie meinen Rucksack bringen sollen. Also setze ich mich hin, plane die nächsten Etappen, reserviere Unterkünfte und beauftrage den Gepäcktransport. Ich tue jetzt also genau das, was ich nicht wollte.

Die Altstadt von Figeac Die Altstadt von Figeac.

Außerdem mache ich einen Tagesauflug nach Rocamadour. Das ist eine Stadt, die an eine Felswand gebaut ist und im Mittelalter eine bedeutende Pilgerstätte war. Wunderheilungen sollen hier passiert sein. Wer auf dem Jakobsweg unterwegs ist und Zeit hat, kann einen Umweg von ca. 80 km gehen, um diese Variante des Weges über Rocamadour zu gehen.

Rocamadour: Wer 80 km mehr laufen möchte, kann eine Variante des Jakobswegs über Rocamadour wählen Rocamadour: Eine mittelalterliche Pilgerstadt, die an den Fels gebaut ist


Nach ein paar Tagen Erholung und mit einem Plan für die nächsten Etappen breche ich mit neuem Mut aus Figeac auf. Landschaftlich gesehen begebe ich mich in die Causses, einer dünnbesiedelten Landschaft. Ich schlendere vorbei an wunderschön blühenden Wiesen und gehe Wege entlang, die mit moosbewachsenen Trockensteinmauern gesäumt sind. Ich bleibe oft und lange stehen, um mir Details anzuschauen und sie zu fotografieren. Mich interessieren die Linien auf einem Schneckenhaus, Flechten auf alten Steinmauern oder Regentropfen auf Kleeblättern.

Der Jakobsweg in der Causses Moosbewachsene Steinmauern säumen meinen Weg durch die Causses


Es ist Mai und die Natur platzt aus allen Nähten. Überall blüht es. Das Grün der Natur ist satt und frisch. Vögel zwitschern. Um mich herum ist Leben pur.  Und zugleich ist es dort unglaublich still. -Keine Autos, keine Flugzeuge, kein Zivilisationslärm. Während ich durch diese Landschaft laufe, wird mir der Lärm in meinem eigenen Kopf bewusst. Dort quängelt und nörgelt es. Ich möchte so gern die Freiheit so einer Fernwanderung erleben und bin so eingeschränkt. Es lärmt in meinem Kopf so sehr, dass mich all die Schönheit um mich kaum berührt. Der Kontrast zwischen innen und außen könnte kaum größer sein.

Typisches Steinhäuschen in der Causses Diese runden Steinhäuschen findet man häufig in der Causses.


Es gibt ein Gedicht von Rilke, das mich auf meinen Reisen begleitet. Es heißt „Du musst das Leben nicht verstehen“. Ich entscheide mich dafür, das Gedicht ganz wörtlich zu nehmen und der Nörglerin in meinem Kopf Blumen zu schenken. Die Natur steht in voller Blühte und ich bleibe an vielen Blumen stehen, um an ihnen zu riechen und sie zu fotografieren. Auch wenn mich die Schönheit um mich herum nicht erreicht, kann ich dennoch meine Aufmerksamkeit darauf richten. Mit etwas Glück wird das meine Wahrnehmung verändern. Die Tage in der Causses gehören mit zu den eindrucksvollsten auf meinem ganzen Jakobsweg.

Ein Schneckenhaus: Wer langsamer wird, kann die Wunder des Wegrands entdecken. Wer langsamer wird, kann die Wunder des Wegrands entdecken.


Woche 6: Cahors bis Moissac: Zu Hause auf dem Jakobsweg

Cahors ist  eine der größeren Städte auf dem Jakobsweg. Dort nehme ich mir noch einmal eine Ferienwohnung und gehe zum Osteopathen in der Hoffnung, dass er etwas für mich tun kann.
Nach einem Pausentag breche ich wieder auf. Ich habe mich an das tägliche Unterwegssein gewöhnt. Mittlerweile ist es angenehm warm und ich kann das Draußensein genießen.

Es kommt außerdem der Punkt, an dem ich einsehe, dass ich wirklich alles getan habe, damit meine Füße heilen. Meine Reise, so wie ich sie mir gewünscht hab, wird so nicht stattfinden. Einen Plan B habe ich nicht. In meinem Kopf spiele ich 1000 Möglichkeiten durch, was ich jetzt tun kann. - Einen zweiwöchigen Strandurlaub einschieben? Einen Sommerjob in Sant Tropez annehmen? Zurück in meinen eigentlichen Job? Währenddessen gehe ich täglich weiter. Ich rieche an Blumen, sehe Schmetterlinge und streichele Katzen. Santiago ist noch sehr weit weg. Und dann wird mir klar, dass es genau darum geht: Täglich unterwegs sein und die Natur erleben. Das kann ich immer noch, es geht eben nur langsamer als geplant. Durch die langsamere Gangart bekommt meine Reise sogar mehr Intensität. Ich sehe Dinge, an denen meine Mitpilger schnell vorbeilaufen, weil sie täglich ihre Kilometer absolvieren.

Schließlich komme ich in Moissac an. Von dort ist man mit dem Zug in 50 Minuten in Toulouse und ich mache für 2 Tage einen Abstecher dorthin.

Abstecher nach Toulouse Im Weltraumthemenpark in Toulouse gibt es unter anderem eine Ariane-Rakete und eine Soius-Kapsel zu sehen. Ein lohnenswerter Abstecher vom Jakobsweg.


In Toulouse blicke ich in müde, leere Gesichter. Dabei ist doch Sonntagabend! Ich vermisse das Strahlen, das von meinen Mitpilgern ausgeht. Nach dem Abstecher in die Großstadt freue mich auf die Rückkehr auf den Jakobsweg, wo ich in der Herberge wieder die vertrauten Anweisungen höre: Stell deinen Rucksack hier hin, deine Stöcke dahin, deine Schuhe in dieses Regal hier. Und der beliebte Pilger-Small Talk: Wann bist du losgegangen? Wo bist du losgegangen? Wo bist du heute losgegangen? Bis wohin gehst du? Wo kommst du her? 

Jetzt fühle ich mich auf dem Jakobsweg zu Hause.

Woche 7: Moissac bis Monreal

Bei meiner Rückkehr aus Toulouse haben wir den ersten wirklich warmen Tag. In der Herberge will ich die Trekkingsandalen anziehen, die ich in Toulouse gekauft habe, aber etwas stimmt nicht: Als ich sie vor mich hinstelle, sind es zwei rechte. Zum Glück ist das Sportgeschäft in Toulouse ("Au vieux Campeur") so entgegenkommend, dass wir die Sandale unkompliziert per Post tauschen können.

Eine besondere Übernachtung habe ich im Schloss von Flamarens. Der Vater des Besitzers hat es als Ruine gekauft. Beide haben daraus mit ihren eigenen Händen ohne Handwerker einen wunderbaren Ort gemacht. Es gibt sogar einen Swimmingpool. Zunächst haben sie dort Hochzeiten ausgerichtet. Dann wollten sie gern eine etwas andere Klientel bei sich haben und beherbergen seitdem Pilger. Ich finde es bemerkenswert, dass sie sich dafür entschieden haben, wo sie doch mit einer anderen Ausrichtung deutlich mehr Einnahmen erzielen könnten. Am Morgen nach der Übernachtung im Schloss bin ich die letzte, die aufbricht. Auch Arthur, der Besitzer, hat etwas zu tun und kann nicht warten, bis ich weg bin. Er bittet mich, alles zuzumachen, wenn ich gehe und ich bestätige: "Ja, ich mache das Schloss zu". Dann bin ich bis zu meinem Aufbruch allein im Schloss und fühle mich als "Schlossherrin".

Eine besondere Pilgerherberge: Das Schloss von Flamarens Eine besondere Pilgerherberge: Das Schloss von Flamarens


Ein weiteres Highlight dieser Woche ist der "Midpoint" der Via Podiensis. Das ist der Punkt, an dem man die Hälfte der Via Podiensis geschafft hat. Jemand hat sich die Mühe gemacht, an einem Baum ein Schild anzubringen. Die meisten Wanderer gehen daran vorbei ohne es zu bemerken.

Ein unscheinbares Schild an einem Baum macht darauf aufmerksam, dass die Hälfte der Via Podiensis geschafft ist. 375km seit Le Puy geschafft - noch 375km bis Saint Jean Pied de Port. Und noch 1187km bis nach Santiago

Meinen Füßen geht es endlich besser. Der rechte ist geheilt, nur der linke braucht noch viel Rücksichtnahme. Ich kann meinen Rucksack aber wieder selber tragen und das verändert meine Reise noch einmal. Dadurch kann ich täglich spontan entscheiden, wie weit ich gehe und so kann ich wenigstens in dieser Hinsicht die Reise machen, die ich mir gewünscht habe. Das hebt meine Stimmung, aber ich halte weiterhin "Kilometerdiät" und das stellt meine Geduld noch sehr auf die Probe. Ich setze meine Energie in die Heilung meiner Füße und hoffe inständig, dass sie sich bis Saint Jean Pieds de Port, wo die Via Podiensis endet, erholen.

Über die Landschaft und den Weg gibt es mit Ausnahme der Causses nichts zu berichten. Es gibt Felder, Wiesen, Wälder und Hügel. Der Weg ist sehr leicht zu gehen.

Ab Mitte Juni wird es für mich interessanter auf dem Jakobsweg. Hier geht's zum Wandertagebuch.